London (energate) - Das Pipeline-Projekt "Nord Stream 2" könnte den EU-Binnenmarkt für Erdgas stärken. Dies ist ein zentrales Ergebnis einer Studie von Prof. Andreas Goldthau, die der Experte für geopolitische Energiefragen für das Russland-Institut des Londoner King’s College erstellt hat. Goldthau argumentiert, durch die Mengen aus "Nord Stream 2" werde die Liquidität sowohl am virtuellen Handelspunkt von Gaspool als auch am österreichischen CEGH sowie den zentraleuropäischen Hubs verbessert. Die Märkte Zentraleuropas würden durch eine bessere Anbindung an Nordwesteuropa gestärkt und der zunehmende Handel könne einen positiven Wettbewerbseffekt haben. Dies erhöhe auch die Versorgungssicherheit in Zentraleuropa.
Voraussetzung dafür sind ausreichende Pipeline-Verbindungen zwischen den zentraleuropäischen Staaten. Goldthau argumentiert, eine solche Verschiebung von bilateralen Vertragsbeziehungen zu einem Handelsmarkt für Erdgas in Zentraleuropa verbessere auch die Versorgungssicherheit, da Gazprom dann Konkurrenz ausgesetzt sei. Dies könne dazu führen, dass russisches Gas, das über Polen transportiert wird, mit russischem Gas, das über "Nord Stream 2" kommt, konkurriert. Wettbewerb mit Unternehmen wie Gazprom könne aber nur funktionieren, wenn die EU-Kommission gleichzeitig als starke Wettbewerbsbehörde Marktmissbrauch bekämpft.
Für polnische Analysten stellt sich dies allerdings anders dar. Agata Loskot-Strachota und Konrad Poplawski vom Warschauer Institut für Oststudien sehen in einem Artikel für das Online-Portal "Energy Post" ebenfalls eine Stärkung des Gaspool VP durch "Nord Stream 2" und die von Gascade geplante Anbindungsleitung "EUGAL". Aber die beiden Autoren sehen dadurch weniger eine Stärkung der zentraleuropäischen Märkte, sondern eine zunehmende Dominanz Deutschlands im europäischen Gashandel. Zusätzliche Gasflüsse aus dem Westen würden neue Projekte in Zentraleuropa verhindern, die eine Diversifizierung weg von russischem Gas ermöglichen könnten, so ihr Argument.
Aus polnischer Sicht könnte vor allem ein Nord-Süd-Korridor von Polen in Richtung Tschechien und der Slowakei eine Alternative sein. Gas für einen solchen Korridor könnte aus dem LNG-Terminal in Swinemünde und aus Norwegen über eine neue Leitung aus Dänemark (Baltic Pipe) kommen. Das Projekt einer Ostseeleitung zwischen Norwegen und Dänemark ist alt, wird aber seit 2015 durch den polnischen Fernleitungsnetzbetreiber Gaz-System und die polnische Politik wieder ernsthaft verfolgt. Georg Zachmann, Analyst des europäischen Think Tanks Bruegel zeigte sich in einem Kommentar für die "Süddeutsche Zeitung" kürzlich ebenfalls skeptisch, ob die Länder Zentraleuropas von einer Westverschiebung der russischen Gasflüsse profitieren. Er geht davon aus, dass die Preisvorteile nur in Deutschland anfallen.
Für Studienautor Goldthau ist jenseits der Debatte über die Wirkungen von "Nord Stream 2" klar, dass die EU klar definieren muss, ob im Verhältnis mit Russland die Erweiterung der Ostsee-Pipeline überhaupt gewünscht ist. Oder ob sie eine neutrale Anwendung der Regeln des dritten Binnenmarktpaketes bevorzugt, um einen diskriminierungsfreien Zugang zum europäischen Gasmarkt zu ermöglichen. Diese Antwort steht noch aus. Die Studie lag energate vor Veröffentlichung durch das Russland-Institut und dem von Prof. Friedbert Pflüger geleiteten European Centre for Energy and Resources Security (EUCERS) des King’s College vor. Studienautor Goldthau ist Professor an der Central European University in Budapest. /hl