Berlin (energate) - Seit dem 23. Dezember 2019 sind die Arbeiten an "Nord Stream 2" unterbrochen. Die Projektgesellschaft hält an dem Vorhaben fest und will die Arbeiten fortsetzen. Parallel dazu geht sie gegen die Änderung der europäischen Gasrichtlinie vor, die "Nord Stream 2" dem regulierten Netzzugang unterwirft. energate hat mit Paul Corcoran, Finanzvorstand der Nord Stream 2 AG, darüber gesprochen, warum sein Unternehmen weiter von dem Projekt überzeugt ist und die Anwendung der Richtlinie auf die Pipeline für unrechtmäßig hält.
energate: Herr Corcoran, ist das russische Verlegeschiff "Akademik Tschersky" auf dem Weg in die Ostsee, um "Nord Stream 2" zu Ende zu verlegen?
Paul Corcoran: Das steht so in der Zeitung. Ich kann das nicht bestätigen. Was ich sagen kann: Wir prüfen alle Optionen zur Fertigstellung der Pipeline. Eine endgültige Lösung haben wir noch nicht. Zu den Optionen und dem Zeitplan kann ich nichts sagen. Es fehlen noch sechs Prozent oder 150 Kilometer. Es ist im Interesse der europäischen Wirtschaft, dass wir so schnell wie möglich fertig werden.
energate: Warum, das Gasangebot ist doch hoch genug?
Corcoran: Aber es scheint doch so zu sein, dass die US-Amerikaner nur ihre eigenen Fracking-Gas-Interessen schützen wollen. Europa muss sich zudem über den fundamentalen Angriff auf seine Energiesouveränität durch die Sanktionen im Klaren sein. Das Projekt erfüllt alle europäischen rechtlichen Vorgaben und hat die notwendigen Genehmigungen von vier EU-Mitgliedstaaten. Leider haben wir bisher nur Lippenbekenntnisse in Europa zu dem Thema Sanktionen gehört. Zum Gasangebot: Kurzfristig gibt es immer Angebots- und Nachfrageschwankungen, das ist nicht entscheidend. Aber die europäische Gasproduktion wird sich in den kommenden 15 Jahren halbieren. Schauen Sie sich die schnelle Reduzierung der Produktion in Groningen an. Und die Nachfrage in Europa ist gewachsen.
energate: Dennoch gibt es etliche Länder in Europa, die nicht unglücklich sind, wenn die Pipeline nicht zu Ende gebaut wird.
Corcoran: Diese Länder sind doch unter anderem die Transitländer für russisches Gas und haben ihre eigenen nationalen wirtschaftlichen und politischen Interessen. Der EU-Binnenmarkt für Gas funktioniert sehr gut. Die europäische Regulierung ist sehr effektiv. Der mögliche Beitrag von "Nord Stream 2" zur Lösung der zukünftigen europäischen Probleme beim Gasangebot ist von hoher Bedeutung. Ich denke, viele Länder befürworten dies.
energate: Aber politisch gibt es die klare Einschätzung, ab 2030 die Nachfrage nach fossilem Gas zu senken. Allein grüne oder dekarbonisierte Gase/Wasserstoff sollen eine Zukunft haben. Was heißt das denn für ein Projekt wie "Nord Stream 2"?
Corcoran: Unsere Investoren sind alles große europäische Energieversorger. Sie haben ihre Markteinschätzungen und ihre langfristigen Prognosen. In der Tat werden derzeit viele Diskussionen über den Green Deal und CO2-Netto-Neutralität ab 2050 oder wenn möglich früher geführt. Aber die Diskussionen über die Notwendigkeit, CO2 zu reduzieren, gibt es doch schon länger. Aus Sicht unserer Investoren leistet Gas dazu einen wertvollen Beitrag, indem es Kohle in der Stromerzeugung verdrängt. Und langfristig, wenn dann wirklich nur noch erneuerbare Energien und Wasserstoff eine Rolle spielen, kann Gas eine Grundlage zur Wasserstoffproduktion sein.
energate: Kann man denn durch die "Nord Stream" 2 auch Wasserstoff transportieren?
Corcoran: Ich bin nicht der Techniker, aber im Unternehmen arbeiten Experten daran, zu analysieren was zu tun ist, damit dies möglich ist. Die Nord-Stream-2-Pipeline ist ja nur ein großes Rohr. Aber durch die Leitung kann man auch das Erdgas transportieren, das dann in Europa in Wasserstoff umgewandelt wird.
energate: Also Erdgas als Grundlage für die Erzeugung von "blauem" beziehungsweise "türkisem" Wasserstoff in Europa. Aber zu einem anderen Thema. "Nord Stream 2" hat einen Antrag auf eine Ausnahme vom regulierten Netzzugang bei der Bundesnetzagentur gestellt. Vielleicht zuerst: Würde eine Netzzugangsregulierung wirklich das Geschäftsmodell von "Nord Stream 2" zerstören?
Corcoran: Es zerstört nicht unser Geschäftsmodell, aber die neue Richtlinie ist einfach ein schlecht gemachtes Gesetz: Die EU-Kommission hat ihre eigenen Verfahrensregeln verletzt und eine diskriminierende Regulierung geschaffen, die höhere Kosten für Industrie und Verbraucher verursacht - das ist das Letzte, was wir angesichts der kommenden Wirtschaftskrise brauchen. Im Vorlauf gab es kein Konsultationsverfahren und keine Folgenabschätzung. Die Richtlinie wird das Projekt nicht verhindern, aber wir haben Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof eingelegt, um eine Annullierung der Änderungen zu erreichen. Wir haben bei der Energiecharta ein Schiedsverfahren gestartet und haben den von Ihnen genannten Antrag bei der Bundesnetzagentur gestellt.
energate: Sie sagen, die Änderung der Richtlinie hat eine negative Marktwirkung. Worin besteht diese?
Corcoran: Sehen Sie, was die Richtlinie für "Nord Stream 2" bedeutet. Wir haben sechs Mrd. Euro im Vertrauen auf einen stabilen Rechtsrahmen investiert. Wenn die EU auf der Zielgeraden eines solchen Vorhabens die Rahmenbedingungen ändert, hat dies Auswirkungen auf das Vertrauen von Investoren. Damit werden fundamentale Rechtsprinzipien der EU, aber auch des deutschen Grundgesetzes, verletzt. Dazu gehören unter anderem die Nicht-Diskriminierung und der Schutz des Eigentums. Es kann nicht die Absicht der deutschen Gesetzgebung oder auch der EU-Gesetzgebung sein, eine einzige Pipeline zu diskriminieren. Deshalb hoffen wir, dass die Bundesnetzagentur dies berücksichtigt.
Das Interview führte Heiko Lohmann, freier Energiejournalist aus Berlin.