Mönchengladbach (energate) - Die Erfahrungen mit Corona haben den Mönchengladbacher Regionalversorger NEW nachhaltig verändert. Im energate-Sommerinterview erklärt NEW-Vorstand Frank Kindervatter, wie der plötzliche Wandlungsdruck Effizienzpotenziale freilegte und welche Risiken die NEW-Führung im Nachgang des Lockdowns noch auf das Unternehmen zukommen sieht. Zudem spricht Kindervatter über die Erschließung neuer Geschäftsmodelle, Beteiligungen an Start-ups und die Erwartungshaltung gegenüber Eon als neuer Gesellschafter der NEW.
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Corona
Digitalisierung
Elektromobilität
E.ON übernimmt Innogy
Ladeinfrastruktur
Start-Ups
energate: Herr Kindervatter, wie sah die Lockdown-Strategie der NEW bislang aus?
Frank Kindervatter: Wir sind den Corona-Herausforderungen in den verschiedenen Unternehmensbereichen unterschiedlich begegnet. Auf der Versorgungsseite haben wir unter Volllast weiterarbeiten können. In diesem Bereich haben wir alle Mitarbeiter, die in der Verwaltung arbeiten, relativ schnell nach Hause ins mobile Arbeiten geschickt. Unsere Energiekunden können über unser Kundencenter fast alle Anliegen online klären. Deshalb haben wir auch nach der zeitweiligen Schließung der Kundencenter nahezu störungsfrei mit anderen Mitteln weiterarbeiten können. Ich vermute, dass wir so in Teilen sogar effizienter waren als im Standardbetrieb. Wir verfolgen seit 2017 eine konsequente Digitalisierungsstrategie, deshalb waren wir auf die Verlagerung sehr vieler Arbeitsplätze in die mobile Arbeit extrem gut vorbereitet.
energate: Inwiefern war die NEW gut vorbereitet?
Kindervatter: Ich bin sehr digital-affin und wir als NEW wollen bis 2025 ein digitales Vorzeigeunternehmen werden. Insofern hatten wir viele Prozesse digitalisiert und mussten das nicht erst als Reaktion auf Corona tun. Schon vor Corona nutzte die Belegschaft das mobile Arbeiten, bei der Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Mit Corona haben wir dieses System direkt unter Volllast gebracht. Als die Frage aus der Mannschaft kam, ob wir die Digitalisierungsbemühungen zurückschrauben sollten, für den Fall, dass wir durch Corona Ergebnisdruck bekommen, sagte ich: Nein, ganz im Gegenteil! Durch die Corona-Phase haben wir intern letztlich Rückenwind für unseren Digitalisierungskurs bekommen.
energate: Wie ist die NEW als Versorger in technischen Bereichen, wie dem Netzbetrieb oder dem Messwesen, umgegangen?
Kindervatter: Im technischen Bereich haben wir den Kundenkontakt auf ein Minimum reduziert und die Mitarbeiter anders allokiert. Das heißt, anstatt zu Kunden rauszufahren und Zähler zu wechseln oder abzulesen, haben wir uns eher um eine Trafostation gekümmert, also den Fokus auf Tätigkeiten gelegt, bei denen die Mitarbeiter weitestgehend unter sich sind. Und gerade in der Technik gibt es Dinge, die wir in die Zeit nach der Pandemie mitnehmen werden: Aufgrund der Größe unseres Versorgungsgebiets haben wir schon vor Corona darüber diskutiert, dass unsere technischen Mitarbeiter aus der Fläche starten und nicht erst zur Arbeitsvorbereitung an die zentralen Standorte kommen sollen. Diese Koordination haben wir von jetzt auf gleich umgestellt. Das hat direkt ohne große Störungen funktioniert.
energate: Welche weiteren Lehren ziehen Sie aus dem Umgang mit der Pandemie?
Kindervatter: Ein Beispiel: Wir sanieren aktuell innerhalb der kommenden drei Jahre unsere Gebäude. Bislang sind wir immer davon ausgegangen, dass ein Eins-zu-eins-Verhältnis von Mitarbeiter und Arbeitsplätzen besteht. Das hat Corona verändert. Mit der Erkenntnis, die wir daraus gewonnen haben, wäre es wirtschaftlicher Unsinn, nach einer Sanierung wieder für jeden Mitarbeiter einen Arbeitsplatz vorzuhalten. Das wird es bei der NEW künftig nicht geben. Denn das würde bedeuten, dass wir ein Haus bauen, das zu groß sein würde. Unser veränderter Ansatz erspart uns rein rechnerisch die Sanierung eines kompletten Altbaus. Auch mir persönlich fiel es anfangs schwer, umzudenken. Bis Corona habe ich den Mitarbeitern stets gesagt, jeder bekommt einen eigenen Arbeitsplatz.
energate: Inwiefern berücksichtigt die Pandemie-Strategie der NEW die Gefahr einer zweiten Welle?
Kindervatter: Wir haben mit der Umstellung so gute Erfahrungen gemacht, dass wir die Veränderungen trotz der allgemeinen Lockerungen weitgehend beibehalten haben. Wir behalten die Situation immer im Blick. Erst nach dem Ende der Sommerferien in Nordrhein-Westfalen im August wollen wir ein Resümee ziehen und entscheiden, inwiefern wir interne Lockerungen vornehmen.
energate: Der Lockdown brachte Kommunalversorger im Geschäft mit Gewerbe- und Industriekunden unter Druck, wenn diese im Zuge der Stillstände, die Energie nicht wie vereinbart abnehmen konnten. Trifft dieser Effekt die NEW auch?
Kindervatter: In unserem Einzugsgebiet hatten wir zwei größere Insolvenzen von Unternehmen, die von der NEW versorgt wurden. In Summe hielt sich aber der Effekt, dass wir nicht abgenommene Energie am Markt preiswerter verkaufen mussten als wir sie eingekauft haben, bei der NEW in verkraftbaren Grenzen. Es bleibt allerdings noch abzuwarten, wie sich die Entwicklung im Mittelstand und im Kleingewerbe darstellen wird. Das ist ein Bereich, in dem wir als Lieferant stark vertreten sind. Aus Kundengesprächen nehme ich mit, dass die kritische Phase gar nicht der Lockdown war, sondern die Zeit danach: Mit den allgemeinen Lockerungen haben die Unternehmen den Betrieb zwar schon wieder aufgenommen. Wegen der geltenden Einschränkungen kriegen sie aber die Umsatzseite nicht hochgefahren - bei vollen Kosten. Sie befinden sich also jetzt in der kritischen Phase.
energate: Hat die NEW wegen dieser Corona-Effekte die wirtschaftlichen Ziele für 2020 korrigieren müssen?
Kindervatter: Nein. Die Ziele im Wirtschaftsplan für 2020 haben weiter Bestand. Mit Blick darauf, was wir Stand heute absehen können, schätzen wir, dass wir diese Ziele tendenziell leicht übererfüllen können. Auch die Investitionen, die wir in die Daseinsvorsorge tätigen, halten wir stabil. Am stärksten vom Corona-Effekt betroffen ist der ÖPNV. Aber hier sehen wir es als Aufgabe der Träger, also von Bund, Ländern und Kommunen, an, gegenzusteuern - etwa über den ÖPNV-Rettungsschirm.
energate: Hat die Pandemie einen besonderen Einfluss, darauf wie und was die NEW in Sachen Entwicklung neuer Geschäftsmodelle tut?
Kindervatter: Nein, nicht direkt. Die Themen, die wir vor der Krise hatten, sind für uns auch jetzt noch aktuell. Was wir uns natürlich fragen müssen, ist ob es in einzelnen Bereichen zu Projektverzögerungen kommt. Ein Beispiel ist die Gesellschaft Stadtentfalter GmbH, die wir derzeit mit Partnern gründen. Ziel der Gesellschaft ist es, smarte autarke Wohnquartiere zu entwickeln. Das ist hochinteressant, weil es auf die Energiewende einzahlt, über Mobilitätsdienstleistungen die Verkehrswende begleitet und auch Entsorgungsthemen tangiert, etwa die Abwärmenutzung aus dem Kanalnetz. Die NEW hat hier viel Vorarbeit geleistet und steht bereit, diese weiter voranzutreiben. Wenn aber die Kunden unserer kommunalen Projektentwickler wirtschaftlich geschwächt sind, ist es ungewiss, ob alles in dem Tempo zustande kommt, wie wir es gerne hätten.
energate: Welche neueren Geschäftsfelder der NEW haben aktuell die größten Zukunftsperspektiven?
Kindervatter: Ganz klar die Elektrifizierung der Mobilität und speziell der Aufbau der Ladeinfrastruktur dazu. Aktuell werden wir mit Anfragen nach Ladeinfrastruktur überschüttet. Die Nachfrage ist so groß, dass wir organisatorisch nicht schritthalten konnten. Als Reaktion auf die Nachfrage haben wir eine Taskforce Ladelösungen ins Leben gerufen, wo viele junge Kollegen mit agilen Methoden daran arbeiten, die Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Damit machen wir aktuell gute Erfahrungen. Es bleibt jedoch schwierig, Sharing-Lösungen wirtschaftlich in den Markt zu bringen, aber wir wollen da noch nicht aufgeben. Am Ende des Tages können wir mit Ladelösungen Umsätze generieren, auch wenn wir zu Anfang dafür in Vorleistung gehen müssen.
energate: Wo steht die NEW in diesem Bereich aktuell?
Kindervatter: Schon jetzt zahlt sich für uns aus, dass wir die E-Mobilität seit Langem vorantreiben und deshalb im Einzugsgebiet überall präsent sind. Von den Menschen in der Region werden wir deshalb als erster natürlicher Partner gesehen, um Firmen und Privathaushalte auszurüsten. Da herum versuchen wir, weitere Themen aufzubauen, etwa den Backend-Betrieb von Ladesäulen und Abrechnungssysteme. Wenn eine Einzelhandelskette an ihren Ladesäulen beispielsweise Dynamic Pricing haben möchte, um ihre Kunden zum Geburtstag kostenfrei laden zu lassen, können wir das anbieten. Über das Ladesäulenangebot öffnen wir uns Türen für solche transaktionsbasierten Geschäfte, die wir für Firmen übernehmen wollen. Ich sage bei der Entwicklung solcher Themen immer: Liefert mir ein Geschäftsmodell, das sich über das Smartphone bedienen lässt. Wir haben sowohl in Sachen Ladetechnik als auch Eigenentwicklung von IT-Lösungen einiges im Köcher.
energate: Gibt es außerdem ein großes Zukunftsthema für neue NEW-Geschäftsmodelle?
Kindervatter: Wir widmen uns gerade dem Thema Nachhaltigkeit. Da stehen wir aber noch ganz am Anfang. Die NEW als Unternehmen bemüht sich selbst, ökologisch nachhaltiger zu werden und möglichst viel CO2 zu vermeiden. Die Idee ist, diese Herausforderung nicht als Bedrohung zu sehen, sondern als Chance, um daraus Geschäftsmodelle zu entwickeln. Wir wollen anderen Firmen helfen, nachhaltiger zu werden und den ökologischen Fußabdruck zu verkleinern. Aus den Erfahrungen, die wir bei der Umstellung - beispielsweise unseres Fuhrparks - und vielen anderen Maßnahmen sammeln, können wir Geschäftsmodelle entwickeln. CO2-Tracking beim Energieverbrauch ist so ein Thema.
energate: Gerade bei einer solchen Lösung gibt es doch sicher zahlreiche Start-ups, die das besser können als ein Versorger wie die NEW, oder?
Kindervatter: Wir haben gar nicht den Anspruch, solche Dinge selbst zu machen. Die Zukunft steht im Zeichen von Kooperation. Wir wollen mit Start-ups, die solche Lösungen anbieten, nicht konkurrieren. Das ist nicht unsere DNA. Die NEW ist gut darin, Lösungen in die Fläche zu bringen. Dass wir es in der Zusammenarbeit mit Start-ups auch mit Unternehmen zu tun bekommen, die am Ende nicht überleben, müssen wir einpreisen. Ich kenne Niemanden, der ausschließlich in Jungunternehmen investiert hat, die Stars geworden sind. Auf diesem Weg haben wir auch aus Fehlern gelernt, aber ich glaube, dass man dieses Wissen nicht gut einkaufen kann.
energate: Welche Kernerkenntnisse haben Sie aus diesem Lernprozess gewonnen?
Kindervatter: Früher haben wir uns bei solchen Beteiligungen in Sachen Mitspracherecht zu sehr zurückgehalten, einfach um überhaupt in Projekte reinzukommen. Uns war und ist sehr wichtig, diese Unternehmen nicht mit unserer Verwaltungsmacht und der kommunalen Denke zu erdrücken. Trotzdem ist es aber wichtig, auch als Minderheitsgesellschafter ein Mitsprachrecht zu haben, um im Krisenfall gegebenenfalls mit einer ordnenden Hand eingreifen und helfen zu können, wo sich ein Gründer möglicherweise aus Begeisterung für das Projekt verliert. Außerdem legen wir ganz großen Wert auf Risikomanagement und gehen bei Investitionen nie Risiken ein, die für das Unternehmen nicht zu bewältigen sind. Das heißt, wir sind keine Zocker, wir setzen nie alles auf eine Karte und wir folgen stets einer strikten Logik. Dabei steht alles unter sehr strenger Beobachtung.
energate: Innogy ist als gewichtiger Minderheitseigner der NEW seit Langem ein wichtiger Partner. Wie sehen Sie den Eigentümerwechsel von RWE hin zu Eon?
Kindervatter: Ich bin seit 20 Jahren bei der NEW und fast ebenso lange auf der Kontaktstelle zu RWE, beziehungsweise später Innogy. Für uns kann ich sagen, dass unser Verhältnis stets kooperativ und die Zusammenarbeit immer extrem positiv war. Wir hatten die Gelegenheit, uns in Beteiligungen einzukaufen oder Innogy hat etwas bei uns eingebracht. Es gab zwar immer wieder Punkte an denen wir inhaltlich nicht einer Meinung waren. Entscheidend dabei war aber, dass wir solche Dinge stets vernünftig und partnerschaftlich lösen konnten. Diesen sehr positiven Erfahrungsschatz nehmen wir als Vertrauensvorschuss mit in die neue Aktionärsstruktur: Mein Anspruch an die neuen Akteure ist entsprechend hoch, und zwar, dass wir weiterhin sehr vertrauensvoll zusammenarbeiten. Wir gehören zu den Beteiligungen der neuen Westenergie, die Frau Katherina Reiche führt. Sie ist stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der NEW und hat sich bei den ersten Kontakten sehr gut eingeführt und damit für die Fortsetzung einer guten Zusammenarbeit geworben.
energate: Gab es Gedanken, den Eigentümerwechsel zum Ausstieg aus der Partnerschaft zu nutzen?
Kindervatter: Eine Change-of-Control-Klausel hatten wir nicht. Dennoch gab es eine Prüfung und Bewertung der Situation. Aufgrund der positiven Erfahrungen in der Vergangenheit war ich immer ein Befürworter der Fortsetzung der Partnerschaft.
Die Fragen stellte Philip Akoto energate-Redaktion Essen.