Hamburg (energate) - Dezentralisierung, Digitalisierung und Dekarbonisierung: Die Umbrüche der Energiewirtschaft haben auch das Anforderungsprofil für Führungskräfte verändert. Über neue Schlüsselqualifikationen, den Kampf um digitale Fachkräfte und Diversity in Führungsetagen sprach energate mit Thorsten Marquardt, Associated Partner der Personalberatung Get Ahead Executive Search.
energate: Herr Marquardt, die Energiewirtschaft befindet sich in einem umfassenden Transformationsprozess. Inwiefern schlägt sich das auch auf die Suche nach Führungskräften nieder?
Marquardt: Unter den Veränderungen, die derzeit die Branche beschäftigen, wirkt sich neben dem Thema Nachhaltigkeit mit erneuerbaren Energien und grünem Wasserstoff vor allem die Digitalisierung auf die Personalsuche aus. Hier müssen Energieversorger den Wandel mitgehen, um nicht den Zugang zum Kunden zu verlieren. Allerdings sind nicht alle klassischen Energiemanager geborene digitalen Fachkräfte - das Anforderungsprofil hat sich geändert. Das heißt, Unternehmen müssen digitale Kompetenzen anlernen oder rekrutieren. Und das findet aktuell auch statt: Alle Unternehmen versuchen derzeit, sich Digitalisierungsexperten an Bord zu holen. Deswegen gibt es auch Engpässe bei Software-Entwicklern, aber auch bei Führungskräften, die über digitales Know-how verfügen.
energate: Aber Digitalisierung ist doch nicht nur ein Thema in der Energiewirtschaft.
Marquardt: Das ist richtig. Hier steht die Energiewirtschaft im Werben um Digitalexperten in Konkurrenz mit vielen anderen Industrien und Branchen, die der gleichen Entwicklung unterliegen. Für einen Digitalfachmann ist die Energiewirtschaft nur ein potenzielles Aufgabengebiet unter vielen. Positiv gedacht heißt das auch: Mitarbeiter oder Führungskräfte aus Digital-Unternehmen in die Energiewirtschaft zu holen, stellt häufig fachlich kein großes Problem dar, die Energiewirtschaft muss sich nur attraktiv genug zeigen.
energate: Was hat sich verändert, wenn es um die Schlüsselqualifikationen in den Führungsebenen der Energiewirtschaft geht?
Marquardt: Inzwischen ist in den Führungsebenen der Energieversorger eine gehörige Portion unternehmerischer Mut erforderlich, etwa um neue Geschäftsmodelle zu etablieren. Das ist - historisch bedingt - noch schwach ausgeprägt. Wichtig ist auch das Thema Fehlerkultur. Viele Unternehmen - und meiner Meinung nach auch Aufsichtsräte - sind nicht ausreichend darauf vorbereitet, dass nicht alles gleich erfolgreich ist, und dass auch Fehler gemacht werden. Das gilt insbesondere dann, wenn man neue Wege geht. Da gibt es an vielen Stellen immer noch eine gewisse Ungeduld. Zudem fehlt es häufig an Durchhaltevermögen, wenn wir etwa an die Produktentwicklung denken. Und wir brauchen einen Schwenk von der Fach- hin zur Methodenkompetenz. Es wird nach wie vor zu viel auf Fachkompetenz geschaut. Führungskräfte und gleichermaßen Aufsichtsräte müssen sich stärker darauf einstellen, dass sie sich in einer "Vuca"-Welt bewegen, die durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit bestimmt wird. Die Energiewirtschaft muss sich daran gewöhnen, dass nicht mehr alle Rahmenbedingungen und Risiken vollständig erfassbar sind. Grundsätzlich ist die Risikoaversion immer noch stark ausgeprägt.
energate: Aber ist die Risikoaversion in der Energieversorgung nicht auch berechtigt? Wir reden hier schließlich über Daseinsvorsorge.
Marquardt: Es stimmt natürlich, dass im regulierten Geschäft nicht gerade der richtige Platz für Experimente ist. In der Netz- und Systemführung braucht es eine stringente Führung und klare Verantwortlichkeiten. Da kannst du nicht mit agilen Methoden kommen. Gleichwohl wird dort sehr viel Arbeit in die Digitalisierung der Prozesse investiert. Auf der anderen Seite gibt es aber das Vertriebsgeschäft, wo die Energiewirtschaft ein enormes Potenzial hat, neue Produkte und Geschäftsmodelle zu entwickeln. Diese Herangehensweisen widersprechen sich natürlich ein Stück weit und führen automatisch zu einer "gespaltenen Persönlichkeit" unter Führungskräften. Meine Prognose ist, dass sich die einzelnen Bereiche immer stärker voneinander trennen werden. Das heißt, die Unternehmen müssen ihre Kompetenzen stärker sortieren.
energate: Welche Schlüsselkompetenzen müssen Führungskräfte mitbringen. Gibt es da für sich ein klares Bild?
Marquardt: Einige Punkte kann man sicherlich hervorheben und in drei Worten zusammenfassen: mutig, empathisch und digital. Führungskräfte müssen eine klare Zielvision vor Augen haben. Sie –sollten wissen, was sie als Führungskraft mit diesem Unternehmen vorhaben und wo die Reise hingehen soll. Und diesen Weg muss man auch konsequent beschreiten - auch gegen Widerstände. Denn Wandel tut manchmal weh, da muss man seine Komfortzone auch mal verlassen. Der zweite Punkt ist ein empathisch geprägtes Durchsetzungsvermögen. Ich muss mehr denn je die Menschen auf der Strecke mitnehmen und von meinem Weg überzeugen. Empathie erzeugt Vertrauen und Vertrauen ist notwendig, damit sich Menschen an Führungskräften orientieren können. Ein weiterer Punkt betrifft die Fähigkeit, starre Strukturen und Hierarchien auch mal aufzubrechen und zu lösen, neue Kooperationen zu wagen. Da spielt etwa auch Empowerment, also die Einbeziehung und Befähigung von Kollegen, eine Rolle. Das zeichnet häufig Start-ups aus, die das hervorragend vormachen. Es gibt sehr gute Beispiele für Gestalter der Energiewelt 4.0. Wir sollten sie hervorheben und von ihnen lernen.
energate: Wie anspruchsvoll ist es derzeit grundsätzlich, passende Köpfe für die Energiewirtschaft zu finden?
Marquardt: Wenn wir es richtig machen, funktioniert es sehr gut. Die Energiewirtschaft hat ja gerade in diesen Zeiten der verschärften Klimadiskussion eine interessante und gesellschaftlich sehr relevante Story zu bieten. In der Vergangenheit ist die Energiewirtschaft in der Personalsuche mit großer Selbstsicherheit aufgetreten, da sie sichere und gut bezahlte Jobs bieten kann. Heute reicht das häufig nicht mehr, denn viele Kandidaten achten auf andere Faktoren. An mancher Stelle kann man fast sagen, das Verhältnis hat sich umgekehrt: Wenn die Energiewirtschaft einen Kandidaten mit IT-Know-how braucht, dann muss sie sich gegebenenfalls regelrecht bewerben. Jetzt gilt es die Attraktivität als Branche, aber auch eines jeden Arbeitsgebers herauszuarbeiten.
energate: Wie steht die Energiebranche im Wettbewerb mit anderen Branchen im Recruiting von Führungskräften dar?
Marquardt: Ich bin sehr zuversichtlich, denn sie ist aus den genannten Gründen wettbewerbsfähig! Auffällig ist, dass Energieversorger aktuell sehr viel Wert auf das Thema Diversity legen. Viele Unternehmen zeigen sich auch deutlich offener für internationale Bewerber. Weibliche Bewerberinnen dürfen inzwischen auf keiner Liste mehr fehlen und es gibt mehr Flexibilität bei der Ausgestaltung der Positionen. Aus Sicht eines Personalberaters ist diese Entwicklung sehr zu begrüßen. Das gibt uns die Möglichkeit, zunehmend aus anderen Branchen Impulse zu setzen und beispielsweise auch mal eine Stadtwerke-Leitung etwas unorthodox zu besetzen.
Die Fragen stellte Rouben Bathke.