Berlin (energate) - Der Angriff auf die Ukraine hat in der Energiepolitik viele Gewissheiten über den Haufen geworfen. energate hat mit den Spitzen von BDEW und VKU, Kerstin Andreae und Ingbert Liebing, über Versorgungssicherheit, Entlastungen und die Strategie für die Zukunft gesprochen. Beiden berichteten auch über Hilfen für ukrainische Versorger.
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Krieg in der Ukraine
energate: Frau Andreae, "Wer den Kohleausstieg will, darf sich nicht gegen neue Gaskraftwerke stellen", haben Sie Ende 2021 in einem Interview gesagt. Gilt dieser Satz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine immer noch?
Andreae: Er gilt, weil wir gesicherte Leistung brauchen, wenn wir den Kohleausstieg beschleunigen wollen. Die Zukunft liegt aber bei CO2-freien Gasen und entsprechenden Kraftwerken. Und wir erleben eine Zeitwende: Es geht darum, die Abhängigkeit von Lieferländern zu reduzieren. Aus meiner Sicht müssen wir beim Hochlauf von Wasserstoff und dem Ausbau der erneuerbaren Energien nun noch schneller werden, um den Kohleausstieg zu organisieren und unabhängiger von Importen zu werden.
energate: Herr Liebing, bröckelt die im Koalitionsvertrag vereinbarte Gasbrücke aus Ihrer Sicht?
Liebing: Sie bröckelt nicht. Aber die Herausforderungen, sie zu bauen, sind gewachsen. Denn wir hatten uns in der Vergangenheit zu sehr auf Erdgaslieferungen aus Russland verlassen. Frau Andreae hat Recht, wir müssen den Hochlauf von Wasserstoff und erneuerbaren Energien nun beschleunigen. An der Notwendigkeit, gesicherte Leistung neu aufzubauen, hat sich aber nichts geändert.
energate: Es braucht also weiterhin neue Gaskraftwerke?
Liebing: Wenn wir Versorgungssicherheit bei Strom und Wärme haben wollen, ja. Und im Moment bekommen wir das nur über Gas hin. Wir müssen uns aber bei den Lieferanten breiter aufstellen.
energate: Frau Andreae, war es nicht auch ein Versäumnis der Energiewirtschaft, sich beim Thema Erdgas so lange auf Russland zu verlassen?
Andreae: Je breiter man aufgestellt ist, desto unabhängiger ist man vom Verhalten eines einzelnen Lieferanten. Wir sollten unsere Lehren aus der jetzigen Situation ziehen und nach vorne schauen: Weniger einzelne Abhängigkeiten und ein schnellerer Ausbau der Erneuerbaren. Wir können uns keine lange Debatten über Windabstände oder Solardeckel mehr leisten.
energate: Die Rufe nach einem Importstopp für russisches Gas werden lauter. Wie sehen Sie die Diskussion?
Andreae: Wir sind alle aktuell zerrissen, weil wir mit den Gasimporten aus Russland Putins Kriegskasse füllen. Auf der anderen Seite würde ein Energieembargo gegen Russland uns wirtschaftlich und gesellschaftlich vor immense, fast verheerende Herausforderungen stellen. Insofern ist der Ansatz der Bundesregierung, neue Lieferoptionen zu eröffnen, aber gleichzeitig mit dem Osterpaket den Erneuerbarenausbau voranzubringen, richtig und wir tragen ihn mit. Natürlich sind das nicht immer leichte Entscheidungen, wie man am Beispiel Katar und dem dortigen Umgang mit den Menschenrechten sieht.
Liebing: Ich habe großen Respekt, vor dem was Wirtschaftsminister Habeck gerade leistet. Das Programm der Ampelregierung war ja bei Energie und Klimaschutz schon ambitioniert, der Krieg führt zu zusätzlichen Verwerfungen. Für einen grünen Minister ist es nicht selbstverständlich, in Katar Gas zu kaufen. Erinnern Sie sich nur an die intensive Diskussion um die Taxonomie zu Jahresbeginn.
energate: Kommt nicht bereits Druck von Kunden, die egar kein Gas aus Russland mehr in ihrer Heizung wollen?
Andreae: Wir als Verband und auch die Unternehmen erhalten jeden Tag Anfragen von Verbraucherinnen und Verbrauchern oder den Medien, ob wir nicht mit einem Energieembargo zusätzlichen Druck auf Russland ausüben können. Ich kann das nachvollziehen. 'Frieren für den Frieden' ist ja eine plakative Forderung. Eine aktuelle BDEW-Studie zeigt, dass wir im Falle eines Embargos rund 50 Prozent der russischen Gasimporte durch andere Energieträger ersetzen oder einsparen könnten. Aber wir müssen auch die Konsequenzen für Wirtschaft und Industrie im Blick haben. Und diese wären erheblich.
energate: Kritisch dürften vor allem die kommenden beiden Winter werden. Müssen wir uns auf Engpässe in der Versorgung einstellen?
Liebing: Wir sollten uns jedenfalls darauf vorbereiten. Denn auch Putin kann sich entscheiden, das Gas abzudrehen, um dem Westen zu schaden. Noch nimmt er aber lieber unser Geld.
energate: Was können Unternehmen denn tun?
Liebing: Das eine ist, dass sich die Energiewirtschaft insgesamt unabhängiger von russischen Gaslieferungen macht. Aber wir müssen uns auch mit dem möglichen Lieferstopp beschäftigen. Dann reicht es nicht, die Heizung runterzustellen. Dann werden Unternehmen abgeschaltet, mit allen Konsequenzen. Diesen Fall kann man nicht mehr ausschließen,
energate: Die Bundesnetzagentur verhandelt aktuell mit Vertretern der Industrie und Verbänden über Abschaltreihenfolgen für Betriebe bei Engpässen in der Gasversorgung. Wie ist der Stand?
Andreae: Bei diesem Thema gilt es, eine ganze Reihe von Fragen zu klären: Das eine ist eine EU-weite Koordination. Es gab in einem sehr kalten Winter im Jahr 2012 einmal den Fall, dass in Baden-Württemberg Kunden abgeschaltet werden mussten, zeitgleich aber in Italien noch Gas eingespeichert wurde. So etwas darf nicht mehr passieren. Zweitens muss klar sein, wann wir vom Energiewirtschaftsgesetz auf das Energiesicherheitsgesetz umschalten, damit die Bundesnetzagentur agieren kann. Zudem brauchen wir klare Kriterien für eine Abschaltreihenfolge. Klar ist: Geschützten Kunden, wie etwa private Haushalte, werden so lange wie es geht, beliefert. Aber wir brauchen eine Abschaltreihenfolge für ungeschützte Kunden, etwa in der Industrie. Wir können auf dem Leitfaden von VKU, GEODE und BDEW aufbauen, der den Notfallplan des BMWK untersetzt. Wenn der Fall eintritt, muss es schnell gehen.
energate: Werden wir Festlegungen vor dem kommenden Winter haben?
Andreae: Darüber wird aktuell mit hoher Vertraulichkeit beraten. Die Bundesnetzagentur ist sich aber meiner Ansicht nach der Tatsache bewusst, dass wir nicht viel Zeit haben.
energate: Die Sorge um die Versorgungssicherheit ist ein Thema, ein anderes sind enorm gestiegenen Energiepreise, die Verbraucher, aber auch Lieferanten belasten. Herr Liebing, Sie haben einen Schutzschirm für die gesamte Energiebranche gefordert. Ist die Not so groß?
Liebing: Es gibt bereits große Energieversorger, bei denen die staatliche Förderbank KFW mit Darlehen eingesprungen ist, um finanzielle Sicherheit für die langfristige Energiebeschaffung zu gewährleisten. In diese Situation können auch andere, kleinere Unternehmen kommen. Deshalb sollte die Absicherung, die der Bund über die KFW bietet, allen Unternehmen offenstehen und nicht nur einigen wenigen.
energate: Sie sehen also auch Stadtwerke gefährdet?
Liebing: Wir führen die Diskussion jetzt, bevor es so weit kommt. Wir sollten nicht erst debattieren und nach Lösungen suchen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist.
Andreae: Die Importeure sind - bildlich gesprochen - der erste Stein, der zu kippen droht. Das gilt es, zu verhindern, damit es nicht zu einem Dominoeffekt kommt. Generell sollten Absicherungsmaßnahmen aber auch anderen Unternehmen offenstehen, auch Stadtwerken.
energate: Die Bundesregierung plant, Unternehmen und Verbraucher bei den Energiepreisen zu entlasten. Welche Maßnahmen halten Sie für sinnvoll?
Liebing: Bei den privaten Haushaltskunden sind gezielte sozialpolitische Maßnahmen nötig. Im Wärmebereich ist das der Heizkostenzuschlag, von dem idealerweise auch Normalverdiener profitieren sollten. Die Einkommensgrenzen müssen angepasst werden. Das Zweite ist: Die Steuern müssen runter. Die Stromsteuer sollte auf das EU-Mindestmaß von 0,05 Cent/kWh gesenkt werden. Und die Umsatzsteuer auf Energie muss runter auf sieben Prozent.
Andreae: Mit der Abschaffung der EEG-Umlage ist eine wesentliche Maßnahme zur Senkung der Energiekosten schon auf dem Weg. Der Druck auf die Preise wird aber bleiben. Deshalb sind weitere Schritte vonnöten. Die Senkungen von Strom- und Mehrwertsteuer sollten auch aus meiner Sicht unbedingt geprüft werden. Die Bundesregierung sollte zudem das im Koalitionsvertrag angekündigte Klimageld weiter vorantreiben.
energate: Auf europäischer Ebene wird auch über eine Preisregulierung nachgedacht, was halten Sie davon?
Andreae: Ich habe große Sorge, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten. Preisregulierung heißt weniger Wettbewerb, weniger Innovation und weniger Investitionen. Aber gerade die brauchen wir für die Energiewende.
Liebing: Wir sollten Marktmechanismen unbedingt aufrechterhalten. Wenn wir beispielsweise den Gaseinkaufspreis in Europa deckeln, werden die dringend benötigen LNG-Lieferungen nicht zu uns kommen. Punktuell kann es aber auch sinnvoll sein, den Rechtsrahmen nachzuschärfen. Beispiel Gasspeichergesetz: Wir waren da vor wenigen Wochen noch sehr skeptisch, dass der Staat in das Speicherregime eingreift. Inzwischen geht es aber nicht mehr um eine turbulente Marktlage, sondern um Versorgungssicherheit. Da kann es aus unserer Sicht durchaus sinnvoll sein, bestimmte Auflagen zu machen.
energate: Wir haben viel über die Folgen des Ukraine-Kriegs für die hiesige Energieversorgung gesprochen. Was können Ihre Mitgliedsunternehmen tun, um die Not der Menschen in und aus der Ukraine zu lindern?
Liebing: Wie in der gesamten Gesellschaft gibt es bei unseren Unternehmen große Solidarität, Spenden und Hilfsangebote. Ganz konkret sind wir über das Bundeswirtschaftsministeriums im Austausch mit Energie- und Wasserversorgern aus der Ukraine. Es ist für die Unternehmen in den vom Krieg betroffenen Gebieten eine enorme Herausforderung, die lebensnotwendige Daseinsvorsorge zu sichern. Unsere Unternehmen können mit technischem Gerät aushelfen, das von der Deutschen Bahn Richtung Ukraine gebracht wird und dort dafür sorgt, dass die Wasser- und Energieversorgung aufrechterhalten werden können.
Andreae: Es gibt vielfältige Initiativen der Unternehmen aus der Energie- und Wasserwirtschaft, die große Anerkennung verdienen. Und wir sollten auch auf die Menschen schauen, die jetzt zu uns kommen. Was können wir tun, um bei der - hoffentlich bald eintretenden - Rückkehr zur Normalität, auch zum Wiederaufbau der Ukraine mithelfen zu können. Von der Handwerkskammer gab es dazu schon während des Syrien-Kriegs eine entsprechende Initiative. Das sollten wir jetzt auch für die Ukraine anstoßen, insbesondere mit Blick auf den Wiederaufbau der Energieinfrastruktur.
energate: Wir danken für das Gespräch!
Das Interview führten Christian Seelos und Karsten Wiedemann.