Berlin (energate) - Das Stromsystem der Zukunft sieht für die Deckung der Spitzenlast Gaskraftwerke vor, vorzugsweise mit Wasserstoff betrieben. Den Weg dazu muss die Politik jetzt bereiten. Casimir Lorenz, Leiter des Beratungsgeschäfts für Zentraleuropa bei Aurora Energy Research, spricht im Interview mit energate über das passende Marktdesign, welche Regeln es für staatliche Absicherungen für Gaskraftwerke geben sollte und wann eigentlich Schluss ist mit Erdgas in der Verstromung.
energate: Herr Lorenz, die Gaskraftwerke laufen zurzeit mehr als sonst. Wie lange brauchen wir die Gasverstromung noch?
Lorenz: Aktuell laufen die Gaskraftwerke hierzulande mehr, da die Probleme der französischen Nuklearflotte erst wieder behoben werden müssen. Generell werden wir so lange Gas brauchen, bis wir alternative Technologien in ausreichender Menge zur Verfügung haben, die die notwendige Flexibilität im Stromsystem bereitstellen. Den größten Teil der Stromproduktion werden bis 2030 erneuerbare Energien am günstigsten bereitstellen, für die Spitzenlast bleiben Gaskraftwerke wichtig. Kurzfristspeicher wie Batterien sind für eine Dunkelflaute von zwei Wochen zwar technisch geeignet, das wäre aber ökonomisch nicht sinnvoll. Gaskraftwerke sind wesentlich günstiger, als diese Speicher nur ein oder zweimal im Jahr zu nutzen. Für diese wenigen letzten fehlenden Gigawatt Kraftwerkskapazität sind auch die hohen Kosten für Wasserstoff nicht so relevant, weil diese Spitzenlastkraftwerke nur wenige Stunden im Jahr laufen müssten.
energate: Wirkt die aktuelle Gaskrise wie ein kurzfristiger Schock oder wirkt sich das auch längerfristig auf die Strategie aus, Gas zu verstromen?
Lorenz: Wir sehen die hohen Gaspreise als kurzfristigen Schock an und gehen nicht davon aus, dass diese extrem hohen Preise langfristig bleiben. Nichtsdestotrotz haben wir unsere Prognosen für die Gaspreise bis zum Jahr 2030 nach oben angepasst, da Deutschland teurere Importquellen nutzen wird. Erdgas ist weiterhin eine Brückentechnologie. Das liegt schlicht daran, dass wir noch keine Alternativen haben: Der Wasserstoffhochlauf geht nicht so schnell und um die Klimaziele zu erreichen, können wir es uns nicht leisten, die Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen. Wichtig ist, eine technisch und ökonomisch zukunftssichere Infrastruktur aufzubauen, um verlorene Investitionen zu vermeiden.
energate: Wie verändern sich Geschäftsmodelle von Kraftwerken, die anstelle des günstigen russischen Pipelinegases mit teurerem LNG betrieben werden?
Lorenz: Langfristig rechnen wir mit Gaspreisen, die sich bei 30 Euro/MWh bewegen. Damit kostet Gas nicht mehr wie ursprünglich rund 20 Euro/MWh, ist aber weit entfernt von den 300 Euro/MWh, die wir in der aktuellen Krise gesehen haben. Dadurch wird die Verstromung von Gas etwas weniger attraktiv, aber der Business Case ändert sich nicht grundlegend. Volkswirtschaftlich führt der kleine Unterschied dazu, dass das System mit ein bisschen weniger Gas als ursprünglich geplant, dafür mit ein bisschen mehr Erneuerbaren, Speichern und früher einsatzreifem Wasserstoff optimal aufgestellt wäre. Da wir noch Zeit haben, kann sich das System anpassen: Vorausgesetzt, wir halten weiter am Energy-only-Markt fest, werden wir wegen der höheren Gaspreise weniger Investitionen in Gaskraftwerke sehen.
energate: Bietet der Energy-only-Markt aus Ihrer Sicht eine ausreichende Grundlage für den Betrieb von Gaskraftwerken oder brauchen wir Absicherungen für die Betreiber?
Lorenz: In der Theorie funktioniert der Energy-only-Markt. Allerdings befinden wir uns im Moment in der besonderen Situation, dass der Energy-only-Markt es vermutlich nicht schaffen wird, neue Gaskraftwerkskapazitäten anzureizen: Zum einen brauchen wir den Wandel im Stromsystem sehr schnell, während viele Parameter wie die Ausgestaltung einer Wasserstoffinfrastruktur noch unklar sind - das sorgt für viel Unsicherheit über zukünftige Einnahmen und macht Investitionen sehr risikoreich und damit zum Teil unmöglich.
Zum anderen zeigen die politischen Eingriffe in den vergangenen Wochen, dass die Politik nicht verlässlich darin ist, Preisspitzen zuzulassen - die aber ein essenzieller Teil des Energy-only-Markts sind! Dadurch wird es noch unrealistischer, dass jemand ein Geschäftsmodell darauf aufbaut, Preisspitzen abzugreifen. Die extremen Unsicherheiten sorgen für sehr hohe Kapitalkosten, insbesondere da Betreiber gar nicht wissen, wie sie ihr Kraftwerk nach 2035 betreiben können. Diese Punkte, also das nötige Tempo, die Unsicherheiten und die politische Unzuverlässigkeit machen die Einführung eines Kapazitätsmarkts sehr wahrscheinlich. Er würde einen Teil der Unsicherheiten und damit auch die Kapitalkosten deutlich reduzieren.
energate: Was gilt es bei der Gestaltung eines staatlichen Kapazitätsmarkts zu beachten?
Lorenz: Wichtig ist ein klarer und langfristiger Fahrplan: Dann kann sich der Markt darauf einstellen, Lieferketten können optimiert werden und die Teile des Systems, die nicht Teil des Kapazitätsmarkts sind, können ihre Investitionen und damit das Gesamtsystem optimieren. Das Marktdesign sollte den Akteuren die Entscheidung so weit wie möglich überlassen, welche Kapazitäten benötigt werden und gleichzeitig ein regulatorisch stabiles Umfeld schaffen.
energate: Wie würde alternativ eine marktbasierte Absicherung für Kraftwerke funktionieren?
Lorenz: In einem reinen Energy-only-Markt haben verschiedene Stromabnehmer ein Interesse daran, sich vor sehr hohen Strompreisen zu schützen. Ein Beispiel: Ich bezahle einem Kraftwerksbetreiber im Rahmen eines Absicherungskontrakts eine regelmäßige Prämie und er verpflichtet sich im Gegenzug, mir bei Bedarf zu einem gewissen Preis Strom zu liefern. Das heißt, auch wenn der Börsenstrompreis zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr hoch ist, zum Beispiel 10.000 Euro/MWh, erhalte ich trotzdem Strom zum vereinbarten Preis, zum Beispiel 300 EUR/MWh. Dieser vereinbarte Preis liegt in der Regel über den Produktionskosten, die der Kraftwerksbetreiber hat. Somit verdient er trotzdem noch und hat durch die Prämie des Absicherungskontrakts einen stetigen Einkommensfluss. Mit diesen sogenannten Cap Futures hätten wir die Mischung aus einem Energy-only-Markt und einem privaten Kapazitätsmarkt. Zu solchen Mechanismen würden wir langfristig vermutlich kommen, wenn es keinen staatlichen zentralen Kapazitätsmarkt gibt.
energate: Wie lassen sich die Lock-in Effekte bei den Investitionen verhindern?
Lorenz: Es muss regulatorische Klarheit herrschen: Was bedeutet es, wenn der Stromsektor bis 2035 klimaneutral ist? Heißt das zum Beispiel, dass es ein Erdgasverstromungsverbot gibt? Wie viel Gigawatt an Wasserstoffkraftwerken sehen wir im Zielbild vor? Wie vertragen sich diese mit den anderen Erzeugungstechnologien? Wichtig für einen späteren Umstieg von Gaskraftwerken auf Wasserstoff ist auch, dass es an den Standorten der Kraftwerke eine Wasserstoffinfrastruktur gibt und die Turbinen natürlich auch mit Wasserstoff laufen können. Regulatorisch könnte der Gesetzgeber zum Beispiel den Umstieg auf Wasserstoff fixieren.
energate: Welche Möglichkeiten hat die Bundesregierung, diesen Umstieg festzulegen?
Lorenz: Nicht nur für den Stromsektor, sondern auch für den Wärmesektor muss klar sein, wie die Dekarbonisierungsstrategie aussehen soll, da die Kraftwerke über die Wärme-Auskopplung auch Wärme liefern. Wenn der Umstieg allein marktgetrieben über die CO2-Preise läuft, dann erreichen wir bis 2035 voraussichtlich kein klimaneutrales Stromsystem. Alternativ könnte der Gesetzgeber dies über das Ordnungsrecht regeln oder wie beim Kohleausstieg eine Kommission einsetzen, die den Plan verhandelt. Wenn wir bis 2030 diese Kraftwerke haben wollen und der Stromsektor bis 2035 klimaneutral sein soll, dann muss die Bundesregierung jetzt entscheiden. Die derzeitigen Unsicherheiten, wie die Ziele erreicht werden, hängen wie ein Damoklesschwert über dem Strommarkt.
energate: Wann dürfen wir die letzten Erdgasmoleküle verstromen und stattdessen nur noch Wasserstoff einsetzen?
Lorenz: Die entscheidende Frage ist, wann wir klimaneutral werden wollen. Wenn wir ein klimaneutrales Stromsystem haben wollen, dann dürfen wir ab diesem Zeitpunkt kein Erdgas mehr einsetzen.
Die Fragen stellte Katharina Johannsen.