Berlin (energate) - Stefan Kapferer, Vorsitzender der Geschäftsführung des Übertragungsnetzbetreibers 50 Hertz, rechnet damit, dass sich die Verfahren zum Netzausbau durch neue Gesetze erheblich beschleunigen. Engpässe könnte es dagegen bei Bauteilen geben, wie Kapferer im Interview mit energate erklärt. Darin wirft er auch einen Blick auf die Versorgungssicherheit im kommenden Winter und äußert sich zum Thema Netz AG.
energate: Herr Kapferer, das vergangene Jahr war im Hinblick auf die Versorgungssicherheit von großen Herausforderungen geprägt. Wie fällt jetzt - Anfang März - Ihr Resümee aus?
Kapferer: Der Winter ist noch nicht ganz vorbei. Aber es lässt sich zweifelsfrei festhalten, dass wir sehr gut durch die vergangenen Monate gekommen sind. Die von vielen befürchtete Versorgungskrise ist nicht eingetreten. Dafür sehen wir aber eine anhaltende Preiskrise und aufgrund der wieder in den Markt gegangenen Kohlekraftwerke auch wieder größere Herausforderungen bei der Klimakrise.
energate: Blackouts sind trotz mancher Unkenrufe ausgeblieben. Waren die Ängste unbegründet oder hatten wir auch Glück?
Kapferer: Wir waren gut vorbereitet. Zwischen Bundesregierung, Energieversorgern und Netzbetreibern gab es grundsätzlich eine sehr gute und zielorientierte Zusammenarbeit. Es gab eine enge Abstimmung beispielsweise bei der Frage, wie viel Kohle wir vorhalten, wie viele Kraftwerke wieder in den Markt gehen oder wie wir die Stromleitungen stärker auslasten können. Das war ein Erfolgsfaktor. Dazu kommt, dass die Energieverbraucher nicht nur Gas eingespart haben, sondern auch Strom. Fünf Prozent weniger Strombedarf, das hat die Netze vor allem in der Spitze entlastet. Hier haben die Wirtschaft, aber auch die Bürgerinnen und Bürger einen wichtigen Beitrag geleistet.
energate: Welchen Beitrag konnten die erneuerbaren Energien 2022 zur Versorgung leisten?
Kapferer: Wir hatten 2022 an 58 Tagen einen Erneuerbaren-Anteil von über 100 Prozent in unserem Netzgebiet, über das Jahr haben wir zwei Drittel unserer Last, also 65 Prozent, aus Erneuerbaren gedeckt. Das ist enorm. Wir sehen auch, dass mit höheren Anteilen an Erneuerbarenstrom jeweils die Preise an der Börse merklich gesunken sind.
energate: Wie sieht es beim Engpassmanagement für das vergangene Jahr aus? Haben wir uns die Versorgungssicherheit teuer erkauft?
Kapferer: Dass die Redispatch-Kosten zu hoch sind, daran besteht kein Zweifel. Das Jahr 2022 war aufgrund der hohen Börsenstrompreise aber ein Ausnahmejahr. Ich bin zuversichtlich, dass sich die Kosten im laufenden Jahr stabilisieren. Dazu wird auch die Möglichkeit beitragen, die Stromnetze stärker auszulasten.
energate: 2022 haben noch drei deutsche Kernkraftwerke zur Versorgungssicherheit beigetragen, das wird im kommenden Jahr nicht mehr der Fall sein. Wachsen damit die Herausforderungen wieder?
Kapferer: Wir haben in unserem Stresstest ja verschiedene Szenarien betrachtet. Eines beinhaltet zu wenige Erzeugungskapazitäten in Deutschland, das andere die geringen Redispatch-Kapazitäten im Süden des Landes. Gerade aufgrund des Letztgenannten haben wir uns im Stresstest zuvorderst für den Weiterbetrieb der beiden süddeutschen Kernkraftwerke ausgesprochen. Wenn im kommenden Winter wieder ausreichend Atomstrom aus Frankreich zur Verfügung steht und die Speicherseen in der Schweiz und in Österreich regulär befüllt sind, werden wir auch ohne deutschen Atomstrom eine hohe Versorgungssicherheit haben.
energate: Es gibt Forderungen nach einem weiteren Stresstest. Wie stehen Sie dazu?
Kapferer: Wir werden wie jedes Jahr eine Bedarfsanalyse machen. Die beinhaltet auch das Redispatch-Potenzial, das wir unter Vertrag nehmen müssen. Das ist ein etablierter Prozess. Das war auch im vergangenen Jahr die Grundlage für den Stresstest.
energate: Kommen wir zum Netzausbau: Die Bundesregierung hat viele Gesetze angeschoben, damit es künftig schneller geht. Merken Sie davon schon etwas?
Kapferer: Was die Genehmigungsverfahren angeht, bin ich extrem zuversichtlich. Ich rechne mit einem regelrechten Genehmigungstsunami. Nicht schon dieses Jahr, aber ab 2025 werden wir spürbar verkürzte Genehmigungszeiträume sehen. Heute stehen wir im Regelfall bei sechs bis sieben Jahren, künftig sollten es maximal noch vier bis fünf Jahre sein. In diesem Punkt hat die Bundesregierung eindeutig geliefert. Das ist die erste Regierung, die von Ambition zu Aktion kommt. Jetzt liegt es an uns, ebenfalls zu liefern.
energate: Ist damit aus Ihrer Sicht der Split der deutschen Strompreiszone vom Tisch?
Kapferer: Das ist eine politische Entscheidung. Ich glaube aber, dass die Diskussion eine andere ist als vor fünf Jahren. Es hat sich gezeigt, dass auch andere EU-Staaten Probleme mit der 70-Prozent-Vorgabe bei den grenzüberschreitenden Transportkapazitäten haben. Außerdem hat sich, wie erwähnt, hierzulande die Situation beim Netzausbau deutlich verbessert.
energate: Der Rechtsrahmen unterstützt nun den Ausbau der Netze. Aber haben Sie auch ausreichend Personal und kommen Sie an die benötigten technischen Komponenten, um den Netzausbau zu beschleunigen?
Kapferer: Was unseren eigenen Personalaufwuchs angeht, bin ich zuversichtlich. Bei Dienstleistern sehen wir aber Engpässe. Einzelne Leistungen, die wir früher an Fremdfirmen vergeben haben, holen wir deshalb inzwischen wieder ins Haus zurück. Der Personalbedarf wird weiterwachsen, insbesondere wenn wir auf den Netzentwicklungsplan 2023 blicken, der mit dem sogenannten Klimaneutralitätsnetz die Anforderungen an den Netzausbau noch einmal deutlich erhöht.
energate: Wie sieht es bei Komponenten wie Kabeln und Trafos aus?
Kapferer: Hier drohen noch größere Engpässe. Die Kabelhersteller passen ihre Produktionskapazitäten im Regelfall an wachsende Bedarfe an, aber das gelingt auch nur mit Zeitverzug. Bei Transformatoren und Konvertern sieht es anders aus. Allein 50 Hertz wird in den nächsten Jahren bis zu 250 Trafos benötigen. Nimmt man die anderen Übertragungsnetzbetreiber hinzu, gibt es einen Bedarf von 800 bis 1.000 Trafos, allein für den deutschen Markt. Das kann die Industrie aktuell nicht bedienen.
energate: Wo kommen die Transformatoren dann her? Sie werden ja benötigt.
Kapferer: Ich bin überzeugt, dass wir in Europa eine industriepolitische Initiative brauchen. Dabei geht es nicht zwangsläufig um Subventionen für den Aufbau von Produktionskapazitäten. Es würde auch reichen, Herstellern und Auftraggebern einen Austausch zu den benötigten Abnahmemengen zu ermöglichen. Die bisherigen Regularien im Vergaberecht beschränken solche Kommunikationsprozesse. Hier brauchen wir pragmatische Lösungen.
energate: Auch die finanziellen Anforderungen wachsen. Steht ausreichend Kapital für den künftigen Netzausbau zur Verfügung?
Kapferer: Unser Business-Plan sieht für die nächsten fünf Jahre Investitionen in Höhe von 8,7 Mrd. Euro vor. Das ist im Vergleich zum vorangegangenen Fünfjahreszeitraum mehr als eine Verdoppelung. Und das wird sich so fortsetzen. Damit ist klar, dass wir weiterhin zusätzliches Eigenkapital benötigen. Unsere Eigentümer Elia und KFW bekennen sich dazu, dieses Eigenkapital zur Verfügung zu stellen. Aber der Eigenkapitalzins, der für die nächste Regulierungsperiode festgelegt wurde, spiegelt die aktuelle Situation an den Kapitalmärkten keinesfalls wider. Das weiß auch die Bundesnetzagentur, deshalb wird es hierzu in nächster Zeit Gespräche geben.
energate: Tennet hat der Bundesregierung Gespräche über eine Übernahme seines deutschen Netzgeschäftes angeboten. Die Diskussion um die einheitliche Netz AG läuft wieder an. Wie bewerten Sie das?
Kapferer: Es wird Sie nicht überraschen, dass ich Zweifel habe, wenn der Staat in immer mehr Bereichen der Energiewirtschaft das Ruder übernimmt. Das Modell, das wir bei 50 Hertz haben, die KFW mit Minderheitsbeteiligung und Elia als Haupteigner, funktioniert gut. Die Politik sitzt bei uns im Aufsichtsrat und hat Einblick in unsere Pläne.
energate: Würden sich mit dem Zusammenlegen der vier Übertragungsnetzbetreiber nicht Effizienzen heben lassen?
Kapferer: Ganz objektiv gibt es ein Effizienzpotenzial, wenn aus vier Unternehmen eins wird, egal in welcher Branche. Allerdings würde ein Merger auch bedeuten, dass die Unternehmen erst einmal über mehrere Jahre mit sich selbst beschäftigt wären. Diese Zeit haben wir beim Netzausbau nicht. Wir würden der Energiewende mit dem Aufbau einer nationalen Netz AG also keinen Gefallen tun.
energate: Ein anderes Thema, mit dem sich die Politik aktuell befasst, ist die Frage, wie sich steuerbare Reservekraftwerke finanzieren lassen. Die Bundesregierung hat hier einen Dialog gestartet. Was erwarten Sie?
Kapferer: Ich vertraue vor allem darauf, dass die Ansage von Minister Habeck gilt, dass wir dieses Jahr eine Entscheidung bekommen. Solange wir die Reservekraftwerke nicht haben, kann es keinen früheren Kohleausstieg geben. Wir brauchen einen Kapazitätsmechanismus. Der Energy-Only-Markt liefert für Investoren keinen sicheren Rahmen. Spätestens die Einführung der Erlösabschöpfung hat dazu geführt, dass Investoren künftig weniger darauf vertrauen werden, hohe Erlöse am Strommarkt auch behalten zu können.
energate: In welchem Umfang brauchen wir Ersatzkraftwerke?
Kapferer: Die Bundesnetzagentur rechnet mit einem Bedarf von 30.000 MW. Das scheint mir realistisch.
Die Fragen stellten Karsten Wiedemann und Christian Seelos.